24 Juni, 2009

Neusprech 2: mutmaßlich

Medien haben oft ein kleines Problem mit der Wahrheit. Sie verdienen mit dem Verkauf von Wahrheit ihr Geld, und dennoch müssen sie manchmal zum Zwecke der Geldvermehrung die Wahrheit etwas auf Linie trimmen - zumal, wenn die Wahrheit nicht einfach und gut sein will.

Die immer gleichen Waren der Medien sind Neutralität, Richtigkeit, Glaubwürdigkeit, Kontinuität, Relevanz und Tiefe, sagt die Lehrmeinung. Jeder weiß, dass man es, gerade bei den Boulevardmedien, damit nicht immer so genau nimmt. Aber das soll hier nicht Gegenstand der Betrachtung sein.

Wie aber gehen die anderen, die lauteren Medien mit der Wahrheit um? Genauso, wenn man es mal mit etwas Abstand betrachtet.
Was tun, ist die oft gestellte Frage, wenn die Wahrheit nicht offen zutage treten will? Dann muss man einfach etwas nachhelfen und zwar mit Worten.

Ein häufig eingesetztes Mittel ist das kleine, aber feine Wörtchen "mutmaßlich": "Der mutmaßliche Mörder zeigt in der Gerichtsverhandlung keinerlei Reue."
Die Botschaft ist ganz klar: Der Mann dort im Gerichtssaal ist ganz klar ein verderbtes Wesen. Er hat nicht nur einen anderen Menschen getötet, sondern widersetzt sich auch noch der moralischen Läuterung. Also muss die Gesellschaft mit unerbittlicher Härte Recht und Genugtuung sprechen.
Das alles spricht aus diesem kurzen Satz.

An dieser Stelle gibt es nur einen kleinen Haken. Der Mensch dort auf der Anklagebank ist nach abendländischem Rechtsverständnis (und nach deutschem Recht) solange unschuldig, bis ihm seine Schuld eindeutig nachgewiesen wurde und er rechtskräftig verurteilt ist. Alles andere wäre eine unrechtmäßige Vorverurteilung und ganz nebenbei auch strafbar.

Was soll also der eifrige Journalist machen, der (mit einem gesunden Rechtsempfinden ausgestattet) die Pflicht hat, seine Leser schnellstmöglich zu informieren. Genau: Er greift in die verbale Trickkiste und zieht das kleine Wörtchen "mutmaßlich" heraus.

Was aber heißt mutmaßlich eigentlich?
Synonyme für mutmaßlich lauten zum Beispiel:
- angeblich, vielleicht, eventuell, vermutlich, anscheinend, verdächtigt,
oder in einer leichten Steigerung:
- möglicherweise, vermeintlich, wahrscheinlich, voraussichtlich.

Was eben noch wie eine Gewissheit klang, wird mit diesen Alternativen plötzlich wieder das, was es ist - nämlich eine bloße Spekulation.
Das klingt dann zum Beispiel so:
"Der angebliche Mörder zeigt in der Gerichtsverhandlung keinerlei Reue."
oder
"Der möglicherweise ein Mörder seiende Mann zeigt in der Gerichtsverhandlung keinerlei Reue."

Zugegeben, das hat sprachlich bei weitem nicht die Eleganz und Durchschlagkraft der weit verbreiteten ersten Fassung, fördert die Wahrheit aber weit deutlicher zutage. Plötzlich ist der Mann wieder das, was er auch schon vorher war: Einer, der angeklagt ist, jemand anderen umgebracht zu haben. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Lage, in die jeder von uns schuldlos geraten kann.

Nachwort: Ist einem Angeklagten die Schuld aber erst einmal zweifelsfrei nachgewiesen, sollte jeder die Möglichkeit haben, das auch beim Namen zu nennen. Leider ist das heutzutage nicht der Fall. Vielleicht braucht es dafür auch wieder ein Wort aus der journalistischen Zauberkiste.