23 März, 2010

Warum wird Marktwirtschaft eigentlich immer mit Kapitalismus verwechselt

Man muss ja kein Freund der Marktwirtschaft sein, um sie als eine Form des sozialen Umgangs zu akzeptieren, die die egoistischen Antriebe des Menschen in sozial verträglich geregelte Bahnen lenkt. Umso bemerkenswerter ist die unüberlegte Vermischung von Ordnungskriterien der Marktwirtschaft mit denen des (fundamental andere Werte sybolisierenden) Kapitalismus.

Wikipedia definiert Marktwirtschaft wie folgt:
"Die Marktwirtschaft (früher auch Verkehrswirtschaft) bezeichnet eine arbeitsteilig organisierte Wirtschaftsordnung, in der die Koordination von Produktion und Konsum über das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage auf Märkten erfolgt. Grundlegende Elemente einer Marktwirtschaft sind das Eigentumsrecht, die Vertragsfreiheit und die Wettbewerbsordnung.
Die Marktwirtschaft grenzt sich damit von der Subsistenzwirtschaft ab, bei der die Produktion nur direkt für den eigenen Bedarf und nicht zum Zweck des Austausches stattfindet. Im Gegensatz zu dem Wirtschaftssystem der Zentralverwaltungswirtschaft plant in der Marktwirtschaft jedes Wirtschaftssubjekt prinzipiell für sich selbst." (Wikipedia)
Der letzte Satz macht, in Kombination mit dem ersten Satz, die Stärke der Marktwirtschaft aus. Es ist also gerade der Tauschhandel, der - sei es unter Zuhilfenahme einer Tauschwährung oder auch ohne - in dieser Ordnung das gedeihliche Zusammenleben der Menschen auf der Basis ihrer Bedürfnisse ermöglicht und damit regelt.

Ganz anders der Kapitalismus. Hierzu schreibt Wikipedia:
"Kapitalismus ist ein vielfältig verwendeter Begriff, der vor allem Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen bezeichnet, die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln sowie der dezentralen privatunternehmerischen Planung der Wirtschaftsprozesse beruhen, die über den Marktmechanismus koordiniert werden. Als weitere charakteristische Merkmale werden oftmals das Streben nach Gewinn sowie der Gegensatz zwischen Unternehmern bzw. Kapitaleignern und lohnabhängigen Beschäftigten betrachtet."
Die Charakterisierung des Kapitalismus im ersten Satz ist traditionell falsch. Weder steht dabei die "privatunternehmerische Planung der Wirtschaftsprozesse" im Zentrum noch wird das kapitalistische Streben "über den Marktmechanismus koordiniert". Die zentrale Aufgabe des Kapitalismus ist gerade "das Streben nach Gewinn", also das Zurückhalten der Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte aus dem Wirtschaftskreislauf zu einem Zweck, den Max Weber benannt hat.
"Weber betont als Merkmal des klassischen Kapitalismus die Reinvestition - also den Nichtkonsum - der erzielten Gewinne und die Dauerhaftigkeit des aufgebauten Unternehmens gegenüber der Oikoswirtschaft mit ihrer Orientierung auf das Erzielen einer Rente," schreibt Wikipedia weiter.
Die - unzulässige - Vermischung geschieht meines Erachtens bereits bei Walter Eucken:
"Die ordoliberale Ordnungstheorie Walter Euckens sucht die Einteilung von Wirtschaftssystemen in sozialistisch und kapitalistisch entbehrlich zu machen, indem sie die Ordnungsformen Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft unterscheidet."
Ganz im Gegensatz zur Marktwirtschaft, bei der die Wirtschaftssubjekte gerade auf den Tauschhandel zum Zwecke der Bedürfnissbefriedigung angetreten sind und damit sorgen, dass der stete Handel das wirtschaftliche und mithin gesellschaftliche Streben dauerhaft weitertreibt, bemüht sich der Kapitalismus gerade, dieses Streben durch Zurückhalten der Güter und Werte aus der marktimmanenten Umverteilung mit Blick auf den eigenen Nutzen zum Erliegen zu bringen.

Kapitalistischer Gewinn und dessen Reinvestition in die Produktion und Vermarktung entziehen den meisten Marktteilnehmern stetig einen Teil ihrer Erträge und spielt diese denjenigen zu, die sich ins Zentrum des Geschehens gesetzt haben. So wird das Karussell des Marktes zwar scheinbar immer weiter angeschoben, gleichzeitig werden am Rande dessen die Marktteilnehmer immer weiter ausgedörrt.

Der Kapitalismus schmarotzt also unverhohlen am Aktivismus der Marktwirtschaft. (Unter diesen Betrachtungen kann man auch verstehen, dass es im Nachkriegsdeutschland auch eine "soziale Marktwirtschaft" geben konnte, nicht aber einen "sozialen Kapitalismus" (was ein Wiederspruch in sich wäre, außer, im Zentrum säße eine ALLEN Teilnehmern zugehörige Macht. Ein Beispiel wäre das Modell der Genossenschaft. Das Modell der Staatswirtschaft kann als gescheitert betrachtet werden).)

Auch kennt der Kapitalismus kein Halten. Die Marktwirtschaft verliert in dem Moment an Schwung, wenn die Bedürfnisse der Marktteilnehmer gestillt sind oder ihre Produktionsfähigkeiten zurückgeht. Das kann zu Nachteilen wie Not führen (eine Lehre, die der zweite Weltkrieg hinterließ und deshalb zu mangelnder Wachsamkeit gegenüber den Auswüchsen des Kapitalismus in unseren Tagen führte), kann aber auch als natürliches Regularium eine Gesellschaft davor schützen, in Raserei über den Abgrund der Existenz zu springen. Der Kapitalismus hingegen muss schon deshalb immer weiter und immer schneller werden, weil er seine Existenz ausschließlich aus der Akkumulation der Gewinne zieht, was schlussendlich im "Turbokapitalismus" münden muss.

An die Stelle des Gewinns tritt im Kapitalismus als abstrakte Form der Zins auf. Es kann nur in Rahmen der Reinvestition des Gewinns im Kapitalismus in Existenz treten, da in der reinen Marktwirtschaft, in der jedem Wert ein Gegenwert gegenüber steht, kein Zins und keine ihm gegenüber stehende Schuld entstehen kann.

Falsche Thesen werden auch durch dauernde Wiederholung nicht wahr

Leider finden sich dumme, das heißt einfachgläubige, Menschen überall, wenn sie einer Sache dienlich sind. In einer Zeit wie dieser, in der Menschen durch ihr Reden und nicht durch ihr Handeln Dinge bewegen, finden sich dumme Menschen also auch unter den Rednern.

Ein Beispiel dieser Entwicklung sei hier angeführt:
"Immerhin, in diesen Finanzkrisentagen erfährt man es schon aus den Boulevardzeitungen: Der Kredit ist die Seele jedes Betriebs, und die Löhne sind zunächst und zumeist von geliehenem Geld zu bezahlen - und nur bei Erfolg auch aus Gewinnen. Das Profitstreben ist ein Epiphänomen des Schuldendienstes, und die faustische Unruhe des ewig getriebenen Unternehmers ist der psychische Reflex des Zinsenstresses."
Peter Sloterdijk wurde ja in den vergangenen Wochen als Mentor in der Sache gerufen und gab sich freudestrahlend dafür hin.

"Profitstreben ist ein Epiphänomen des Schuldendienstes" - aus der Innenansicht des Kapitalismus mag diese These Bestand haben und zu Legitimierung des verschärften kapitalistischen Handelns Anlass geben. Aus oben benannten Gründen ist das aber genauso Quatsch wie die als Notwendigkeit postulierte These, dass "Löhne zunächst und zumeist von geliehenem Geld zu bezahlen" sind. Beide Behauptungen bedingen sich gegenseitig durch das System, das ihre Wurzeln bildet.

Der Kapitalismus hat die Not, in der er steckt, selber geschaffen. Und sie wird verschwinden, sobald der Kapitalismus verschwindet.